Bernhard Peter
Anspruchswappen

Was sind Anspruchswappen?
Wappen feudaler Herren drücken normalerweise die Ländereien aus, in denen tatsächlich Macht ausgeübt und regiert wird. Also enthalten die Wappen Felder für die Stammgüter, die Eigentum der Familie sind, oder auch von zu Lehen genommenen Gütern. Ererbte Besitzungen können ebenfalls Eingang in das Wappen finden. Man spricht auch von Besitzwappen. So lesen sich vermehrte Wappen wie kleine Landkarten, auf denen die Gebiete verzeichnet sind, in denen der Wappenträger Rechte besitzt, innehat und ausübt. Und genau diese Bedingung wird bei Anspruchswappen nicht erfüllt. Anspruchswappen drücken in zusammengesetzten, vielfeldrigen Wappen des Hochadels die Gebiete, Länder, Herrschaften und/oder Städte aus, die man aus gewissen Gründen glaubt beanspruchen zu dürfen, auch wenn man sie tatsächlich nicht besitzt, nie besessen hat oder keine Chance hat, sie jemals zu besitzen. Meistens haben Anspruchswappen ihre Wurzeln in Erbgängen, die von denen, die leer ausgingen, ganz anders beurteilt werden. Eine weit hergeholte verwandtschaftliche Beziehung wird dabei oft zum Anlaß genommen, zu glauben, man könne sich so darstellen, als hätte man die Gebiete eigentlich bekommen müssen. Anspruchswappen sind - einmal ganz deutlich ausgedrückt - leider meistens Anlaß oder Ergebnis von Streit ums Erbe. In einer Zeit, als man als Zeichen von Macht und Würde gerne möglichst komplexe und vielfeldrige Wappen anstrebte - je mehr Felder, desto mehr Ansehen - gab man sich im Hochadel heraldisch gerne diesen irrationalen Träumereien hin; und auch wenn diese Anspruchsfelder faktisch nur heiße Luft waren, wurden sie oft über Jahrhunderte beibehalten.

1. Beispiel für Anspruchswappen: Waldeck-Pyrmont
Das Wappen der Grafen und späteren Fürsten von Waldeck-Pyrmont ist neunfeldrig mit Herzschild:

Zu diesem Wappen gehören insgesamt fünf Helme:

Bildbeispiel: Schloß Pyrmont, Giebelfeld

Von neun Feldern des gräflich- und später fürstlich-Waldeck'schen Wappenschildes sind nur 1x Waldeck und 2x Pyrmont "echt". Waldeck ist der Stammsitz des Geschlechtes, und Pyrmont ist ihr später dazugekommener Besitz. Alles andere, also zwei Drittel der Felder, sind Ansprüche ohne realen Hintergrund. Die Grafen haben die übrigen Gebiete nie besessen oder beherrscht. Genauso die Helme - 3 von 5 sind Ansprüche, hübsch anzusehen und Herrschaften vorgaukelnd, die man nie faktisch innehatte. Die Grafen und Fürsten trugen klangvolle Titel wie "Se. Durchlaucht, der regierende Fürst zu Waldeck und Pyrmont, Graf zu Rappoltstein, Herr zu Hohenack und Geroldeck am Wasziegen" - wahr davon waren nur Waldeck und Pyrmont.

Rappoltstein, Geroldseck, Hohenack - alles Gebiete im Elsaß. Es handelt sich übrigens um Grand-Geroldseck im Elsaß, nicht um Hohengeroldseck im Ortenaukreis. Die Herren von Rappoltstein sind eine uradelige Familie und herrschten von 1084 bis 1673 im Elsaß, in und um Rappoltsweiler (Ribeauville). Bekannt sind die Burgen der Rappoltsteiner, allen voran die wunderschöne Ulrichsburg, dazu Giersberg und Hohen-Rappoltstein, Hohenack und Judenburg, bekannt auch der erbitterte Konflikt mit den Giersbergern. Der letzte Herr von Rappoltstein wurde in den Grafenstand erhoben, es handelte sich um Johann Jacob Graf von Rappoltstein (1598-1673). Sein vollständiger Titel lautete "Graf zu Rappoltstein, Herr zu Hohenack und Geroldseck am Wasichin". 1673 starb das Geschlecht in männlicher Linie aus. Die Besitztümer fielen an das Haus Birkenfeld-Bischweiler-Pfalz-Zweibrücken, denn durch ein altes kaiserliches Privileg war es den Rappoltsteinern erlaubt, ihren Titel auch in weiblicher Linie zu vererben, wenn keine männlichen Nachkommen das Erbe antreten konnten. Catharina Agathe (1648-1683), älteste Tochter des verstorbenen Grafen Johann Jacob, heiratete im Jahr 1667 Christian II., Pfalzgraf bei Rhein, Herzog von Pfalz-Birkenfeld-Bischweiler (1637-1717), der 1673 den Rappoltsteiner Titel annahm. Mit der tatsächlichen Ausübung der ererbten Rechte war es aber nicht weit her, denn die betreffenden Besitzungen standen seit 1680/81 unter französischer Souveränität. Die leiseste Resthoffung des Hauses Wittelsbach auf Rappoltstein ging endgültig in der Französischen Revolution verloren, als am 4.8.1789 durch Beschluß der Nationalversammlung sämtliche Feudalrechte aufgehoben wurden.

Doch woher kommen die Ansprüche der Grafen und Fürsten von Waldeck-Pyrmont? Sie beziehen sich lediglich auf eine Nichte des letzten Rappoltsteiner Grafen. Graf Johann Jakob von Rappoltstein hatte einen Bruder, Georg Friedrich Graf zu Rappoltstein, und dessen Tochter, Anna Elisabeth Gräfin von Rappoltstein (1644 - 1676) heiratete 1658 Christian Ludwig Graf von Waldeck (1660-1706), den Stammvater der Grafen und Fürsten von Waldeck und Pyrmont. Im Gegensatz zur Tochter des letzten Rappoltsteiner Grafen, die den Titel und die Besitzansprüche tatsächlich erbte und an die Wittelsbacher brachte, war der Anspruch über die Nichte des letzten Rappoltsteiner Grafen inhaltsleer. Ungeachtet der oben erwähnten französischen Souveränität über die Gebiete und der Aufhebung sämtlicher Feudalrechte auf französischem Boden, und ungeachtet der Tatsache, daß Anna Elisabeth NICHT die Erbin war, führte und führt das Haus Waldeck-Pyrmont die Ansprüche im Wappen weiter. So nennt sich der heutige Chef des Hauses immer noch "Wittekind, Fürst zu Waldeck und Pyrmont, Graf zu Rappoltstein, Herr zu Hohenack und Geroldseck am Wasigen".

2. Beispiel für Anspruchswappen: England
Im Jahre 1340 beansprucht Edward III die französische Krone, weil seine Mutter Isabella einzige Tochter und potentiellerweise einzige Erbin von König Philip IV von Frankreich ist. Seine Theorie war, daß eine Frau zwar in Frankreich nicht die Thronfolge antreten kann, wohl aber diesen Anspruch an ihren Sohn weitervererben kann. Eine Theorie, die zum Hundertjährigen Krieg führte. Als Symbol dieses Anspruchs viertelt er den Schild:

Dieses Wappen wurde benutzt unter den Plantagenet-Königen Edward III (1340-1377) und Richard II (1377-1399) und unter dem Lancaster-König Henry IV (1399-1405).

Im Jahre 1405 ändert Charles V, König von Frankreich, das altfranzösische Wappen durch Reduzierung der Lilienanzahl auf drei. Der englische König Henry IV zieht sofort nach:

Das englische Wappen unterliegt in der Folgezeit vielfältigen Veränderungen - alle Veränderungen überleben die französischen Lilien. Sie werden zwar immer wieder anders im Schild angeordnet, aber sie bleiben - sogar über die französische Revolution hinaus. Erst 1801 wird unter König George III aus dem Haus Hannover der alte Anspruch auf die französische Krone aufgegeben. Anlaß für die Wappenänderung war der Act of Union with Ireland 1801. Das Frankreich-Viertel (bisher Viertel Nr. 2) wird durch Schottland (In Gold innerhalb eines außen und innen mit Lilien besteckten Zwillingsinnenbordes ein roter Löwe) ersetzt.

3. Beispiel für ein Anspruchswappen: Sachsen
Hintergrund ist der Jülich-Klevische Erbfolgestreit. Die Grafschaft Ravensberg im nordöstlichen Westfalen (Zentrum: Bielefeld) war ab 1346 mit Berg verbunden. 1356 wird Jülich Herzogtum. 1437 verbinden sich Berg-Ravensberg und Jülich. 1394 wurden das Herzogtum Kleve und die Grafschaft Mark vereinigt. 1511 gibt es einen weiteren Erbfall: Jülich-Berg–Ravensberg verbindet sich mit Kleve-Mark zu den Vereinigten Herzogtümern Jülich-Kleve-Berg. Nachdem die Herzöge mit Johann Wilhelm IV. ohne Erben 1609 ausstarben, kommt es zum Jülich-Klevischen Erbfolgestreit. Infolgedessen werden die Vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg 1614 im Vertrag von Xanten aufgeteilt. BRandenburg-Preußen, Sachsen und das Haus Wittelsbach streiten sich um das Erbe aus dieser Teilung. Der Pfalzgraf aus dem Hause Wittelsbach erhält Jülich und Berg (zum Herzogtum Pfalz-Neuburg), der Kurfürst von Brandenburg bekommt Kleve, Mark, Ravensberg und Ravenstein. Durch den Vertrag von Xanten kam Kleve 1614 in vorläufigen, 1666 dann in endgültigen Besitz der Kurfürsten von Brandenburg. Für Sachsen sind sämtliche aufgeführten Komponenten, also immerhin fünf Felder des Wappens, reine Anspruchswappen, weil es bei der Aufteilung leer ausgeht. Um so fester hielten sämtliche sächsischen Linien an diesen Ansprüchen heraldisch fest: Seitdem enthalten die sächsischen Wappen insgesamt 5 Felder mit Anspruchswappen - Gebiete, die sie nie besessen oder regiert hatten, die sie einfach nur gerne gehabt hätten. Der Anspruch leitet sich lediglich davon ab, daß der von 1521 bis 1539 regierende Herzog Johann III eine seiner Töchter, Sibylle von Jülich-Kleve-Berg, nach Kursachsen verheiratet hatte. Johann III hatte aber noch Sohn und Enkel, und erst mit dem Tod des Enkels brach der Erbfolgestreit aus, als sich die verschwägerten Reichsfürsten um das Erbe zankten.

Bildbeispiel: Ostheim vor der Rhön, Kirchenburg, Hauptportal der Kirche

Aufbau des abgebildeten beispielhaften Wappens:

Die sechs goldenen Gitterhelme mit Zier stehen für:

Interessant ist, daß von sechs Helmen allein 3 Helmzieren reine Anspruchs-Helme darstellen, immerhin die Hälfte! Natürlich sind die Anspruchs-Helme denen, deren zugehörige Gebiete tatsächlich beherrscht wurden, im Rang nachgeordnet.

Literatur und Quellen:
Hartmut Platte: Waldeck und Pyrmont, Geschichte eines Fürstenhauses, Heft 3 der Reihe Deutsche Fürstenhäuser, Börde-Verlag Werl 2006, ISBN 3-980-6221-8-5
Hugo Gerard Ströhl, Deutsche Wappenrolle, Reprint von 1897, Komet Verlag Köln, ISBN 3-89836-545-X
Genealogien: Prof. Herbert Stoyan, Adel-digital, WW-Person auf CD, 10. Auflage 2007, Degener Verlag ISBN 978-3-7686-2515-9
Siebmachers Wappenbuch
Olaf Vieweg, Was ist was - das sächsische Wappen, Karfunkel Nr. 36, 10-11/2001, ISSN 0944-2677, S. 65 ff.
http://www.heraldique-europeenne.org/Regions/Allemagne/Saxe.htm
http://www.heraldique-europeenne.org/Regions/Allemagne/Saxe_Weimar.htm
http://www.heraldique-europeenne.org/Regions/Allemagne/Saxe_Meiningen.htm
http://www.heraldique-europeenne.org/Regions/Allemagne/Saxe_Altenbourg.htm
http://www.heraldique-europeenne.org/Regions/Allemagne/Saxe_Cobourg_Gotha.htm
Die letztgenannten Seiten sind eine hervorragende Arbeit, bergen aber noch Ungereimtheiten und fehlerhafte Zuordnungen.

Grundlagen der Heraldik

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